Berufung leben in Krisenzeiten
Viele Menschen suchen fast ein Leben nach der Zufriedenheit im Beruf. Sie bleiben dran und entwickeln ein großes Durchhaltevermögen. Der Appell zum Durchhalten drängt sich oft in Krisen auf. Gerade jetzt in der Zeit der Corona-Pandemie müssen viele von uns durchhalten. Bei den einen brechen die Umsätze ein. Für einige ist ein kompletter Neustart nötig. Andere müssen sogar ihren Renteneintritt um einige Jahre verschieben. Eine Kundin mit der passenden Berufung fragt mich resigniert: „Wozu immer wieder die Berufung erkennen und ihr folgen?“ Das Argument, was ich dann am häufigsten von Kollegen höre/lese: „Du verbringst die längste Zeit Deines Lebens im Beruf. Deine Zeit ist kostbar. Also bleib dran!“ Doch greift dieser Aufruf zum Durchhalten nicht etwas zu kurz. Braucht es nicht einen inneren Grund zum Durchhalten?
Innere Ruhe und Sicherheit durch den Beruf?
Zu Beginn der Pandemie spürte ich bei vielen Menschen eine Endzeitstimmung. Mit dem Schüren der Angst versucht sogar ein amtierender US-Präsident die Wahlen zu gewinnen. Mit der Angst vor der Endlichkeit wird in Krisenzeiten eine Menge Geld verdient. Schon im Mittelalter hatten die Menschen in der Not die Sorge, am Ende kein gottgerechtes Leben geführt zu haben. Deshalb kauften sie Ablasszettel. Heute versuchen wir die Zufriedenheit auf andere Weise herzustellen. Wir besuchen Seminare für die Findung von Karrierewegen oder dem Abbau innerer Hürden. Immer ist die Berufung ein Schlüsselwort, das bei allem und jedem verwendet wird. Mit der Berufung soll eine innere Zufriedenheit und Ruhe wieder hergestellt werden. Wer seiner Berufung treu bleibt und dranbleibt, wird schon im Arbeitsleben glücklich werden. Sind das nicht mehr als Ausreden? Was, wenn es eine dauerhafte Lösung mit Langzeitwirkung gar nicht gibt?
Mit der Berufung die innere Wahrheit finden
Kürzlich berichtet Nina Martin in einem Beitrag in der ZEIT, dass sie immer auf der Suche nach einem Beruf war, der glücklich macht. Nachdem sie erfährt, dass sie mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung leben muss, wird sie glücklich. Sie kümmert sich fortan mehr um ihre Lebensumstände und die Folgemaßnahmen, die ihrer Gesundheit dienen. Die Berufungsfrage stellt sich für sie fortan nicht mehr.
Eine junge hochbegabte Akademikerin mit Anfang 30 besucht meinen Kloster-Workshop und macht sich klar, welche Leidenschaften, Begabungen und Sehnsüchte bestehen. Erst wenn die Liebe damit verbunden und zum Dienst werden will, begibt sich ein Mensch auf den Weg, die Berufung möglich zu machen. Die Teilnehmerin erkennt, weshalb sie trotz eines Prädikatsexamens kein Glück ihrem bisherigen Beruf empfinden konnte und sogar erkrankte. Jetzt aber ist es ihre innere Wahrheit, mit der sich sogar vom Universum angenommen fühlt, und die ihr die Ruhe schenkt. Dadurch erkennt die Teilnehmerin auch, dass es Angebote des Lebens für ihre Berufung gibt. Lebenskraft kann sich dort entfalten.
Die Hürden einer wahren Berufung
Eine Frage drängt sich mir immer auf, wenn Menschen mit ihrer Berufung hadern: Hat mir die Berufung jemals Zufriedenheit versprochen? Nein. Das hat sie nie. Meine Berufung hat mir nie die dauerhafte Zufriedenheit versprochen. Und manchmal bin ich sogar sehr unzufrieden mit den Hürden, die mir in meiner Berufung begegnen. Corona ist nur eine von vielen Krisen, die uns Seminaranbietern oft die Lust am Job verhagelt haben. Mir liegt die Show mit den Werbebroschüren so vieler meiner Coaching-Kollegen nicht. Die Berufungsfrage beantwortet eine sehr viel tiefere Frage als die nach dem „Traumjob finden“. So haben mir meine Berufung und die Arbeit mit Suchenden bewusst gemacht, dass das Leben einen Sinn hat und sich im beruflichen Tun auch entfalten will. Jedes menschliche Leben hat einen Sinn und wir können diesen Sinn im Beruf erfahren. Dazu benötigen wir zunächst die Erkenntnis, was der Ruf in uns an Wahrheit offenbaren möchte. Und um die Lebenskraft zu gewinnen, die aus einer Berufung erwächst, ist es eine Haltung zum Schmerz des Gegenwärtigen mit einzuschließen. Das fehlt bei fast allen Visions-Seminaren.
Berufung führt zur Begeisterung
Die Herkunft des Wortes Berufung ist nicht unwesentlich. Selbst wenn Menschen nicht religiös oder einer anderen Weltanschauung nahestehen: Der Berufungsbegriff entstammt einer Geschichte, die 12 Männer derart begeisterte, dass sie das größte Unternehmen der Geschichte gemeinsam gründeten. Die 12 Menschen wurden berufen, gemeinsam einen spirituellen Weg zu gehen. Etwas einfach formuliert: 12 bis dahin normale Männer folgen einer Sehnsucht, verlassen ihren bisherigen Beruf und lassen sich von einem spirituellen Meister inspirieren. Die 12 werden berufen, es dem Meister gleich zu tun und sich der inneren Wahrheit zu verschreiben. Doch im Großen und Ganzen stehen die 12 im Schatten des Meisters. Obwohl von dem Meister viel Licht ausgeht, bleibt die gemeinsame Aktion nach damaligen und heutigen Kriterien ein klägliches Engagement.
Als der Meister dann auch noch hingerichtet wird, schlägt das Engagement in Niedergeschlagenheit um. Wozu die ganze Berufung? Sie stellen also den Nutzen ihrer Berufung in Frage. Ein Mann namens Thomas ist sogar derart deprimiert, dass er die anderen nicht mehr ertragen kann. Nach einiger Zeit des Frustes aber geht den anderen 11 ein Licht auf. Durch die leidvolle Dunkelheit erkennen Sie das Licht, dass in ihrem Meister war. Und es gelingt ihnen gemeinsam, dieses Licht nun selbst in sich zu erkennen. Es sozusagen fortan selbst leuchten zu lassen. Thomas begegnet dem Licht verspätet. Er und die anderen werden einen hohen menschlichen Preis zahlen. Es ist aber nachweislich immer noch das erfolgreichste Projekt weltweit.
Wir nennen diese Geschichte heute Passion. Der Sinn einer Leidenschaft ergibt sich durch das Leiden. Leidenschaft verwoben mit Gaben und Sehnsucht lässt die Begeisterung wachsen.
Die eigene Berufung erkennen für ein sinnhaftes Leben macht für jeden Sinn. Und dafür lohnt es sich immer dranzubleiben und Durchhaltevermögen zu entwickeln. Jedenfalls kann ich persönlich dranbleiben, wenn ich meine Berufung so verstehe.